Eine Stellungnahme von Helga Weidemann
Ich berichte aus der Sicht eines Menschen mit einer Doppelrolle. Meine Doppelrolle bedeutet, ich bin Angehörige – Mutter einer an paranoider Schizophrenie erkrankten Tochter und ich bin Profi – approbierte Psychotherapeutin.
Meine ersten Kontakte zur Psychiatrie fanden in den Jahren 1979 bis 1982 statt. Damals habe ich mit den Medizinern das Seminar „Psychiatrie“ besucht und im Diplom eine Prüfung dazu gemacht, dann meine Diplomarbeit zu Schizophrenie geschrieben. Ich habe in dieser Zeit in der Psychiatrie Praktikum gemacht und als Pflegehelferin gearbeitet. Wir haben damals z.B. die italienischen Reformpsychiater Basaglia und Jervis und „Irren ist menschlich“ (von Dörner & Plog) gelesen und uns mit den Ansätzen der Gemeindenahen Psychiatrie befasst.
Als dann meine Tochter erkrankte, erwartete ich 2014 vertrauensvoll, dass fast 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquête alles besser sei. Wie entsetzt war ich, dass feststellen musste, dass die Behandlungsansätze immer noch vor allem somatischer Natur waren. Im Vordergrund stand die oft hochdosierte medikamentöse Behandlung (z. B. bis zu 70mg Benperidon = Glianimon pro Tag). Die Kliniken nennen sich zwar „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie“, aber wie und wo findet die Psychotherapie statt? Der erste Schritt wäre doch der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung!! Die beobachtete Realität aber ist, dass die Patientin in 3 Wochen 2 bis 4 verschiedene ÄrztInnen hat – und das ohne die Station zu wechseln! Aber es würde Kontinuität benötigen, um einen vertrauensvollen Kontakt aufzubauen, in dem die Erfahrungen der chronischen Erkrankung gemeinsam beobachtet und besprochen werden könnten. Gerade in dieser Zeit würden die Wahrnehmungen und Rückemeldungen der Angehörigen von großem Nutzen sein.
Ich denke, dass es 3 Gründe gibt, uns Angehörige ziemlich außen vor zu lassen, wie es immer wieder erlebt und schon in den anderen Beiträgen geschildert wurde:
- die zunehmend somatische Sicht- und Herangehensweise, die eine psychotherapeutische Herangehensweise zweitrangig macht
- noch immer die Vorstellung von den überfürsorglichen/überbesorgten Eltern (vorwiegend Müttern).
- Ich habe eine Freundin, ebenfalls Psychotherapeutin, die mich seit 1979 als Wohngemeinschaftsmitglied, Bergwanderin in einsamen Gelände und junge Mutter erlebt hat und die definitiv weiß, aus welchem Holz ich geschnitzt bin. Selbst sie hat bekannt, dass sie auch Jahre gebraucht hat, um zu realisieren, dass meine Sorgen und mein Engagement für meine Tochter völlig realitätsbezogen waren. Wenn schon meine Freundin so dachte, muss man vielleicht milde mit den Profis sein, die uns für überbesorgt halten. Immer wieder wird das Ziel genannt, der/die PatientIn müsse sich ablösen. Sie können mir glauben: Die meisten Angehörigen wünschen sich nichts sehnlicher als abgelöste Kinder! Wir hätten schon Ideen, wie wir unser Leben anders gestalten könnten.
- Ein falsch verstandener Datenschutz.
- Es kann doch nicht sein, dass ich erst am Dienstag erfahre, dass meine Tochter warm und trocken seit Samstag in der Psychiatrie sitzt, nachdem sie im Oktober aus der Donau gefischt wurde, während hier eine Vermisstenanzeige läuft und die Polizei mit Hubschraubern und Hunden sucht.
Ich habe auch bessere Erfahrungen gemacht. Mit den Jahren hat die zuständige Klinik mein Engagement mehr gewürdigt. Auch die Medikation folgt inzwischen moderneren Erkenntnissen. Bei Krankenhausaufenthalten im Ausland waren die ÄrztInnen sehr an meiner Mitwirkung interessiert, hörten auf meine Erfahrungen mit der Medikation, pflegten den Kontakt mit mir. Ich weiß nicht, ob dies einem anderen Familienbild in anderen Ländern entspringt oder der Besonderheit einer ausländischen Patientin, die nur mit Hilfe der Mutter geordnet entlassen werden kann.
Also unsere dringende Bitte an die Profis: Redet mit uns Angehörigen. Egal ob es in Form der „Trialogische Visite“ ist, im „open dialog“, redet mit uns. Wir haben in vielerlei Funktionen viel beizutragen. Wir tun es ohne schriftliche Antragsformalitäten, gebührenfrei und wir tun es mit Liebe.