„Warum und wie das Einbinden von Angehörigen für alle Beteiligten hilfreich sein kann“

Eine Stellungnahme von Shau Chung Shin

Mein Bruder ist vor fast 30 Jahren an paranoider Schizophrenie erkrankt. 

Ich habe im Laufe der Zeit verschiedene Phasen durchgemacht, von denen ich im Folgenden berichten möchte. Dabei geht es mir nicht darum, Vorwürfe zu machen, sondern Verständnis herzustellen und zu schildern, warum und wie das Einbinden von Angehörigen für alle Beteiligten hilfreich sein kann.

Ich habe sehr lange gebraucht, zehn Jahre, um die Erkrankung meines Bruders zu akzeptieren. Als mein Bruder anfing, auf der Straße herumzulaufen und zu schreien, habe ich mich unheimlich geschämt. 

Der beste Freund meines damaligen Freundes, ein Pfleger, der in der Psychatrie arbeitete, sagte mir damals: „Dein Bruder ist psychisch auffällig“. Ich ahnte damals schon, was er mir damit sagen wollte. Die Wortwahl war aber so fremd für mich, dass ich damit nichts anfangen konnte. Schon das Wort „psychisch“ hat bei mir eine große Scham erzeugt. Ich wollte daher mit dem Thema einfach nichts zu tun haben. 

Rückblickend, denke ich, hätten mich andere Worte  – trotz aller Scham – besser aktiviert, sowas wie: „Shau Chung, dein Bruder ist schwer erkrankt, er braucht deine Hilfe. Geh mit ihm zum Arzt.“

Er wurde dann später zwangseingewiesen, nach Riedstadt/Goddelau – das war das Schimpfwort aus unserer Grundschulzeit. 

Die Scham blieb. Meine Eltern haben sich damals um meinen Bruder gekümmert. Sie waren sich jedoch uneins, was die beste Therapie war. Sie haben sich nur gestritten und es gab sicherlich Vorwürfe und Schuldzuweisungen. 

Mein Bruder musste sich außerdem von uns regelmäßig anhören, dass er faul wäre und sich doch endlich mal aufraffen solle.

Ich fand das alles sehr sehr belastend: die Scham, die Wut darüber, dass ausgerechnet mein Bruder psychisch krank geworden ist. Die Streitereien meine Eltern machten es für mich noch unerträglicher.

Da ich aber damals schon nicht mehr zu Hause gewohnt habe und in einer Stadt in der Nähe studiert habe, konnte ich mich der Situation gut entziehen. 

Wie wäre es gelaufen, wenn man meinen Eltern schon damals gesagt hätte, dass Vorwürfe und Streit  meinen Bruder nur noch zusätzlich belasten würden? Wenn man sich mit uns zusammengesetzt hätte und uns Empfehlungen gegeben hätte, um mit der Situation umzugehen? Hätte mein Bruder für seine Genesung ein besseres Umfeld vorgefunden?

Erst 10 Jahre später – ich lebte im Ausland – fing ich an, mich mit der Erkrankung meines Bruders zu befassen. Ich informierte mich. Zurück in Deutschland, traf mich regelmäßig mit meinem Bruder und hatte die Idee, zwischenzeitlich gesammeltes Wissen und meine Erfahrungen auf einer Webseite publik zu machen, um anderen Angehörigen zu helfen. Wissen über die Hilfsangebote und verständlich machen, wer was macht: Befugnisse, Zeitkontingente, finanzielle Unterstützung.

Eines der wertvollen Informationsquellen war das Psychoedukationsseminar von Dr. Bittner von der Uniklinik Frankfurt. Zum ersten Mal erhielt ich einen Eindruck davon, wie es ist mit den Symptomen der Erkrankungen und den Medikamenten zu leben. Was erkrankten Menschen hilft. Und was nicht.

Und dass Medikamente dafür da sind, um Symptome zu lindern, um eine Therapie zu ermöglichen. Damals hörte ich auf, Medikamente zu verteufeln. Und ich erfuhr dort von einer Gruppe für Angehörige, zu der ich anschließend ging und der ich noch immer angehöre.

Mit diesem Wissen, konnte und kann ich viel nachsichtiger mit den Symptomen meines Bruders umgehen. Und ich hatte andere Angehörige, die da waren und zugehört haben. In Momenten, wo ich aufgrund der Belastung manchmal selber darüber nachdenke, meinem Leben ein Ende zu setzen.

Meine Erfahrungen in Bezug auf das Einziehen von Angehörigen, und hiermit meine ich konkret die rechtlichen Betreuerinnen meines Bruders und die Sozialarbeiterinnen, waren fast ausschließlich positiv. Ein regelmäßiger Austausch fand statt. Es half mir auch zu sehen, welche Grenzen ihnen gesetzt waren, und wie sie sich eingesetzt haben, um meinen Bruder stabil zu halten. 

Während der akut psychotischen Phase vor drei Jahren hatte meine Mutter Kontakt zu einer überaus engagierten Mitarbeiterin vom Sozialpsychiatrischen Dienst im Kreis Offenbach, die meine Mutter jeden Tag anrufen konnte und die auch ab und zu bei ihr vorbeischaute. Damals war mein Bruder aus seiner letzten Wohnung rausgeflogen und wohnte in der kleinen 2-Zimmerwohnung meiner Mutter. Er war nur noch Haut und Knochen und ernährte sich nur von Bier. Er war verbal sehr aggressiv und laut. Diese Frau war wirklich ein rettender Engel gewesen.

Ich weiß aber auch von vielen negativen Beispielen, daher wünsche ich mir, dass das Einbeziehen von Angehörigen System hat.

In Asien hat das soziale Umfeld eine hohe Bedeutung. Mit allen Vor- und Nachteilen, die dieser Umstand für den einzelnen Menschen mit sich bringt. Die Familie ist – entweder notgedrungen oder kulturell bedingt – das Hilfenetzwerk eines Menschen. In einigen Kulturen wird von den Eltern entschieden, welchen beruflichen Weg man einschlägt, welche Freunde man hat und wen man heiratet.

Die Vorteile zeigen sich an folgenden Beispielen meines Umfelds:

Indien: Ein Manager wurde vom Arzt seines an Schizophrenie erkrankten Mitarbeiters angerufen und gebeten, die Mitarbeitergespräche vorläufig zu pausieren, da diese seinen Patienten zu sehr belasteten.

Malaysia: Das familiäre Umfeld, inklusive Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen und enge Freunde, wurde vom Bewährungshelfer gebeten, den Druck auf seinen Mandanten zu reduzieren. Dieser hatte aufgrund der hohen Erwartungen seines Umfelds, materiellen Wohlstand zu generieren, Firmengelder unterschlagen und musste ins Gefängnis.

China: Während einer psychotischen Episode musste ich meinen Bruder in einer Klinik in Südchina abholen. Es war selbstverständlich, dass ich bei meinem Bruder sein konnte und auch mit dem Arzt sprechen konnte. 

Mir, und sicherlich auch meinem Bruder und meinem Umfeld, hat es viel gebracht informiert zu werden und mit einbezogen zu werden. Auf diese Weise können wir besser zusammenarbeiten, zum Wohle, nicht nur des erkrankten Menschen, sondern aller Beteiligten und letztendlich auch der Gesellschaft.